HT 2023: Scaling Mobilities in the Age of Coach, Caravan and Sail

HT 2023: Scaling Mobilities in the Age of Coach, Caravan and Sail

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Fabia Berhanue, Lehrstuhl für Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit, Humboldt-Universität zu Berlin

Mittlerweile ist grundsätzlich etabliert, dass es sich bei der Frühen Neuzeit um eine Epoche hoher und vielgestaltiger Mobilität handelte. Neben der räumlichen Dimension spielten auch verschiedene Transportmittel, Objekte und Texte eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung frühneuzeitlicher Mobilitätspraktiken. Jene wiederum prägten die sozialen Beziehungen, die Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Selbstdarstellung mobiler Akteur:innen nachhaltig. Die Frage nach diesen mobilitätsbezogenen Verortungsprozessen stand im Mittelpunkt der Sektion.

In ihren Einleitungsstatements umrissen Tobias Graf (Berlin) und Philip Hahn (Saarbrücken) den bisherigen Stand der Forschung und wiesen auf Desiderate hin. So gelang es im Rahmen von mikro- und globalgeschichtlichen Arbeiten zwar bereits, die Bedeutung von Mobilität in vormodernen Gesellschaften nachzuzeichnen. Allerdings gilt es noch zu klären, wie sich hierbei verschiedene Analyseebenen zueinander verhalten. In diesem Zusammenhang betonte Graf mit Verweis auf Valeska Huber, dass unterschiedliche Formen und Ausmaße von Mobilität relational betrachtet werden müssen, um etwaige Überschneidungen und Wechselwirkungen offenzulegen.1 Dabei – so eine an die methodologischen Überlegungen Jacques Revels anknüpfende Grundannahme der Sektion – erweist sich besonders das experimentelle Spiel mit verschiedenen Untersuchungsmaßstäben als hilfreich, weil es das Zusammendenken der mikro-, makro- und mesoanalytischen Ebene ermöglicht.2 Ziel der Sektion war es daher, zu beleuchten, wie hochmobile Akteur:innen der Frühen Neuzeit selbst mit verschiedenen Größenordnungen umgingen, um ihre Mobilität zu verorten.

Den Protagonisten des Eröffnungsvortrags gelang es zeitweise, sich und ihre Migrationsbewegungen so zu inszenieren, dass sie dadurch finanzielle Ressourcen generieren konnten. Zeitgenoss:innen bezeichneten die von TOBIAS GRAF (Berlin) vorgestellten Akteure als „Arabische Prinzen“. Sie traten in Europa, vor allem im Heiligen Römischen Reich, ab Mitte der 1720er-Jahre ungefähr 80 Jahre lang in Erscheinung und präsentierten sich als im osmanischen Syrien verfolgte Katholiken mit hochrangiger Stellung. Das erklärte Ziel der Männer war es, Geld für ihre (vermeintlich) verfolgten Familien zu sammeln. Da die „Prinzen“ den Appell an christliche Nächstenliebe und Mitgefühl im frühneuzeitlichen Europa ebenso wie eine gewisse Skepsis oder gar Feindseligkeit ihnen gegenüber mit zahlreichen weiteren mobilen Akteur:innen gemein hatten, mussten sie verschiedene Praktiken der Selbstdarstellung entwickeln, um sich von ihrer Konkurrenz abzuheben. Nach diesen fragte Graf und positionierte die „Prinzen“ im Spektrum dreier frühneuzeitlicher Phänomene, bei denen Mobilität von großer Bedeutung war: Flüchtlingsmigration, Almosensammlung und „Vagabundentum“. Die Quellengrundlage hierfür bildeten die von den „Prinzen“ gestellten Petitionen, die resultierenden Reaktionen der europäischen Behörden und die wechselhafte Berichterstattung über die Reisenden in europäischen Medien.

Für die „Prinzen“ war die Fremdwahrnehmung ihrer Mobilität wesentlich, weil verschiedene Migrationswege, -distanzen und -ursachen aufgrund der damit verbundenen Assoziationen unterschiedlich bewertet wurden. Das Urteil hierüber bestimmte den Umgang mit den Reisenden in Europa, zum Beispiel im Hinblick auf die Gewährung von Almosen. Zudem lag es im Interesse der lokalen Behörden, eine zügige Weiterreise der Männer zu befördern, um sicherzustellen, dass sie nicht im eigenen Verantwortungsbereich sesshaft wurden. Daher konnten die „Prinzen“ eher mit einer moderaten finanziellen Unterstützung durch örtliche Behörden rechnen, wenn sie ihre Flucht vor Verfolgung, ihre soziale Position und ihre Intention, den behördlichen Zuständigkeitsbereich zeitnah zu verlassen, glaubhaft darlegen konnten. Wurden sie hingegen als umherziehende „Vagabunden“ wahrgenommen, machte sie das zu den unerwünschten Angehörigen einer kriminalisierten und stigmatisierten Gruppe ohne Anspruch auf Zuwendungen. Folglich strebten die „Prinzen“ danach, sich von anderen wegen ihrer Mobilität abgewerteten Bevölkerungsgruppen abzugrenzen. Im Kontext ihrer Selbstdarstellung war besonders die Betonung ihres langen Leidenswegs aufgrund von glaubensbasierter Unterdrückung durch muslimische Kräfte zentral, da sich auf diese Weise konfessionsunabhängig christliche Solidarität einfordern ließ. Diesen Aspekt unterstrichen die „Prinzen“ mithilfe ihrer „orientalischen“ Kleidung, ihrer Kenntnis der arabischen bzw. ihrer Unkenntnis europäischer Sprachen und durch Ausführungen über die (angeblich) dramatischen Umstände ihrer trans-mediterranen Flucht und Migration. Zugleich half das Mitführen offizieller Dokumente und Empfehlungsschreiben aus anderen europäischen Territorien dabei, sich als weit gereisten Geflüchteten mit nur kurzer Aufenthaltsdauer am jeweiligen Ort auszuweisen und damit die eigene Mobilität zu legitimierten. Somit war das Wissen um europäische Perspektiven auf Mobilität unterschiedlicher Größenordnungen sowie der geschickte Umgang hiermit ausschlaggebend für den Erfolg bzw. Misserfolg der „Prinzen“. Graf gelang es also, aufzuzeigen, dass sich verschiedene Mobilitätsphänomene keineswegs ausschlossen, sondern je nach betrachtetem Personenkreis gerade in ihrer Überschneidung analysiert werden sollten.

Auch PHILIP HAHN (Saarbrücken) untersuchte einen Akteur, der lokal und global operierte. Georg Leonhard Schwartz reiste 1734 als einer von rund 300.000 Deutschen in den Diensten der Niederländischen Ostindienkompanie (VOC) nach Batavia (heute Jakarta) und verfasste nach der Rückkehr in sein württembergisches Heimatdorf Beutelsbach einen Reisebericht. Eine Auseinandersetzung mit seiner Mobilität bietet sich besonders an, weil er als gut dokumentierter Fall repräsentativ für eine große Gruppe vielseitig vernetzter Arbeitsmigrant:innen der Frühen Neuzeit steht. Den Kern des Vortrags bildete eine Kontextualisierung von Schwartz‘ Migrationsbewegungen mit Schwerpunkt auf seinem lokalen und globalen sozialen Beziehungsgeflecht. Hierzu griff Hahn neben dem 1748 veröffentlichten Reisebericht und den Musterrollen der VOC auf Archivmaterial aus Beutelsbach und Münster, dem späteren Wohnort von Schwartz, zurück.

Die Arbeitsmigration des Küfergesellen Schwartz kann zunächst entlang seiner Reiseroute nachvollzogen werden. Nach einigen Stationen in der Nähe seines Geburtsorts verließ Schwartz das regionale Migrationssystem auf der Suche nach einer besser bezahlten Anstellung. Aufgrund der Empfehlung eines anderen Handwerkers erhoffte er sich diese bei der VOC und gelangte über einige Umwege schließlich nach Rotterdam, um dort gemustert zu werden. Im Anschluss an die lineare Darstellung der Migrationsbewegungen zeigte Hahn, dass sich die Mobilität von Schwartz noch auf andere Weise konzeptualisieren lässt. Dafür wurden beispielhaft die Werkstatt, das Schiff und das Dorf Beutelsbach als räumliche Knotenpunkte zentriert, die die lokalen und globalen Verstrickungen des Akteurs offenbaren. Aus seinem Reisebericht geht hervor, dass Schwartz zahlreiche seiner Entscheidungen basierend auf Informationen über (un)günstige Arbeitsbedingungen traf, die ihm von einem aus Handwerkern bestehenden Netzwerk übermittelt wurden. An seinem Arbeitsplatz, der Werkstatt, fand also in Europa ebenso wie in Asien wichtiger Informationstransfer statt. Hierbei spielten unter anderem regionale Solidaritätsgefühle eine Rolle, beispielsweise, wenn Schwartz in Asien auf andere Württemberger traf und man sich wegen eines gemeinsamen Bezugspunktes gegenseitig Unterstützung gewährte. Die Fokussierung auf die Werkstatt als Interaktionsraum illustrierte demzufolge, dass sich im Laufe der Frühen Neuzeit europäische Traditionen der Handwerkermigration und Netzwerkbildung mit Arbeits- und Mobilitätsregimen aus anderen Regionen der Welt verwoben. Der Blick auf die Crew des Schiffs, das Schwartz nach Batavia brachte, verdeutlichte ebenfalls, wie wichtig ein relationaler Ansatz bei der Betrachtung von Mobilitätspraktiken ist. Es befanden sich nämlich zahlreiche mobile Akteur:innen aus verschiedenen europäischen Regionen an Bord, bei denen sich laut Hahn eine vergleichende Analyse ihrer Migrationsbewegungen und sozialen Verflechtungen lohnen würde. Auch das Dorf Beutelsbach bietet hierfür Anknüpfungspunkte. Nach Schwartz‘ Rückkehr setzten von dort aus allmählich Kettenmigrationsbewegungen ein, die unter anderem auf seine Erfahrungsberichte zurückzuführen sein dürften. Des Weiteren sollte Hahn zufolge die chronologische Dimension nicht unterschätzt werden. Diesbezüglich komplementierte das Archivmaterial den Reisebericht von Schwartz an entscheidenden Stellen und half den Einfluss seines mobilen Lebensstils auf das soziale Umfeld am Herkunftsort nachzuvollziehen. Insgesamt wurde deutlich, wie die Auseinandersetzung mit Mobilitätsformen und -räumen variierender Größenordnungen dafür genutzt werden kann, sozialrelationale Perspektiven auf frühneuzeitliche Arbeitsmigration offenzulegen.

Abschließend stellte PASCAL FIRGES (Bielefeld) zwei europäische Akteure des 17. Jahrhunderts ins Zentrum seines Beitrags, die ebenfalls in den Diensten der VOC und der Niederländischen Westindien-Kompanie (WIC) tätig waren. Caspar Schmalkalden und Albrecht Herport entstammten sozial besser gestellten Familien mit städtischem Hintergrund und waren zu Beginn ihrer Migrationserfahrungen jung und relativ gebildet. Dennoch befanden sich beide in einer finanziell prekären Lage und konnten nicht auf andere Formen der für junge Männer üblichen Bildungsreisen wie die Grand Tours der Aristokratie oder die Wanderjahre zünftiger Gesellen zurückgreifen. Diese Mobilitätsformen waren aufgrund ihres identitätsstiftenden Charakters und der mit ihnen assoziierten Erfahrungswerte jedoch häufig Voraussetzung für den Zugang zu bestimmten Berufsfeldern, -positionen und -netzwerken. Daher, so Firges, fungierte die interkontinentale Arbeitsmigration für Männer wie Schmalkalden und Herport als Substitut. Anhand ihrer Fallbeispiele skizzierte Firges, wie horizontale und vertikale, also geographische und soziale Mobilität in der Frühen Neuzeit zusammenhing. Hierfür wurden die Reiseberichte der Arbeitsmigranten sowie weitere textuelle und visuelle Quellen vergleichend ausgewertet.

Schmalkalden stand als Soldat und Landvermesser zehn Jahre in den Diensten der VOC und WIC. Er kehrte schließlich 1652 in das heimische Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg zurück und erlangte mithilfe „exotischer“ Objekte, die er auf seinen Reisen gesammelt hatte und nun der herzoglichen Kunstkammer übergab, die Gunst von Herzog Ernst I. Dank dessen Fürsprache erhielt Schmalkalden eine Anstellung als Kanzlist am Hof und heiratete eine Tochter des ehemaligen herzoglichen Sekretärs. Es war ihm gelungen, seine Arbeitsmigration und die damit einhergehenden Ressourcen so einzusetzen, dass sie als ähnlich prestigeträchtig wie traditionellere Formen der bildungsbezogenen Mobilität wahrgenommen wurden und in der Folge ebenso karrieredienlich waren. Zudem hatte Schmalkalden neben dem sozialen Kapital, das seine Integration in die Gothaer Verwaltungselite beförderte, durch seine Arbeitsmigration ökonomisches Kapital angehäuft. Auch Herport war fast zehn Jahre als Soldat für die VOC tätig und verfolgte nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Bern eine ähnliche Strategie wie Schmalkalden, um seine soziale Reintegration zu gewährleisten. Er brachte ebenfalls „Exotika“ von seinen Reisen mit und widmete der städtischen Oberschicht Berns seinen 1669 veröffentlichten Reisebericht. Schon im Vorwort des Werks präsentierte Herport seine Arbeitsmigration als vergleichbar mit den Bildungsreisen der Aristokratie und behauptete, dass seine Mobilität ihm Erfahrungswerte verschafft habe, die gerade eine Führungspersönlichkeit benötige. Tatsächlich bekleidete er später hohe Positionen in der städtischen Verwaltung, was als Beweis für den Erfolg seiner mobilitätsbezogenen Selbstdarstellung gewertet werden kann. Das Selbstbild beider Männer hing ebenso eng mit der Reiseerfahrung zusammen. Sie präsentierten sich beispielsweise noch Jahre nach ihrer Arbeitsmigration als Kosmopoliten, wie Firges anhand eines Porträts von Herport und eines Freundebuch-Eintrags von Schmalkalden demonstrierte, in denen Bezüge zur interkontinentalen Mobilität der Akteure hergestellt wurden. Die exemplarisch vorgestellten Arbeitsmigranten nutzten demnach ihre horizontale Mobilität sowie die damit verbundenen Kompetenzen, materiellen Ressourcen und identitätsstiftenden Aspekte als Äquivalent für anderweitige Reiseerfahrungen, womit sie – das beweist ihre spätere vertikale Mobilität – auch erfolgreich waren.

In der anschließenden Diskussion wurden zum einen vortragsspezifische Fragen erörtert, wie die nach dem Konnex zwischen dem hochmobilen Lebensstil der Akteure und der jeweils vorherrschenden globalpolitischen Großwetterlage. Andererseits wurden methodologische Entscheidungen problematisiert. Diesbezüglich wurde etwa festgehalten, dass künftig der Blick auf sozial bzw. finanziell weniger gewinnbringende Migrationsbewegungen und -strategien für eine vergleichende Perspektive von Vorteil wäre. In diesem Zusammenhang betonten die Referenten aber zugleich, dass der Wert und der Erfolg verschiedener Mobilitätsformen von subjektiven Wahrnehmungen und Darstellungen abhängig war. Zudem wurden weiterführende Fragestellungen aufgeworfen: Wie steht es um die geschlechtergeschichtliche Dimension des Themenkomplexes? Und könnte eine intensivere Auseinandersetzung mit der Mobilität von Objekten, insbesondere im Hinblick auf die Sammlungspraktiken europäischer Akteur:innen zielführend sein?

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Philip Hahn (Saarbrücken) / Sarah Lentz (Bremen) / Dženita Karić (Berlin)

Tobias Graf (Berlin), Vertretung für Sarah Lentz (Bremen) und Dženita Karić (Berlin) / Philip Hahn (Saarbrücken): Einleitung

Tobias Graf (Berlin): Scales of Migration and Self-Fashioning: Arabian Princes in Eighteenth-Century Europe

Philip Hahn (Saarbrücken): The Village, the Workshop, and the Ship: Scaling Relations of Global Work Migrants

Pascal Firges (Bielefeld): Vertical Scales of Migration: Transcontinental Work Migration as a Middle Path between Journeyman Years and Grand Tour?

Anmerkungen:
1 Vgl. Valeska Huber, Multiple Mobilities. Über den Umgang mit verschiedenen Mobilitätsformen um 1900, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 317–341.
2 Vgl. Jacques Revel (Hrsg.), Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996.

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch
Sprache des Berichts